Einstweilige Verfügung: Schwerbehinderter Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung

Das Arbeitsgericht (ArbG) Aachen hat in einem einstweiligen Verfügungsverfahren entschieden, dass ein schwerbehinderter Arbeitnehmer Anspruch auf die Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung gegenüber seiner Arbeitgeberin hat. Er darf diesen auch im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens durchsetzen. 

Das war geschehen

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer ist seit September 1988 bei der Arbeitgeberin – einem Unternehmen, das Bauelemente herstellt und vertreibt, – als Verkaufs- und Vertriebsleiter tätig. Er ist wegen eines Hirntumors seit April 2023 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und war bis zum 10.4.2024 fahruntüchtig. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wird nach Erreichen der Regelaltersgrenze des Arbeitnehmers mit dem Ablauf des Monats Oktober 2024 enden. Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung begehrte der Arbeitnehmer, ihn ab Mitte März 2024 entsprechend einem ärztlichen Wiedereingliederungsplan nach dem sog. „Hamburger Modell“ zu beschäftigen, um zeitnah an seinen Arbeitsplatz zurückkehren zu können.

Fehlende Fahrtüchtigkeit steht Wiedereingliederung nicht im Weg

Das ArbG gab dem Antrag des schwerbehinderten Arbeitnehmers statt, da die Arbeitgeberin verpflichtet sei, an der stufenweisen Wiedereingliederung mitzuwirken. Dem stehe die fehlende Fahrtüchtigkeit des Arbeitnehmers nicht entgegen. Der Arbeitnehmer könne während der Fahruntüchtigkeit zu Beginn der Wiedereingliederung zunächst seinem Aufgabenprofil entsprechende Büroarbeiten erledigen.

Sache ist eilbedürftig

Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung besondere Eilbedürftigkeit ergab sich nach Auffassung des Arbeitsgerichts daraus, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer auf die zeitnahe Wiedereingliederung angewiesen sei. Demgegenüber würde eine Versagung der Wiedereingliederung den Teilhabe Anspruch des schwerbehinderten Arbeitnehmers am Erwerbsleben vereiteln oder jedenfalls erheblich erschweren. Auch der nahe Renteneintritt des Arbeitnehmers ändert nach Ansicht des ArbG nichts am Eilbedürfnis. Quelle | ArbG Aachen, Urteil vom 12.3.2024

Allgemeines Gleichstellungsgesetz: Keine Benachteiligung, wenn „fachliche Eignung“ des schwerbehinderten Menschen fehlt

| Das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW hat entschieden: Eine Entschädigung wegen Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) scheidet aus, wenn der Bewerber eine klassische kaufmännische Ausbildung hat, die nicht mit der Laufbahn des mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienstes (Bundeswehrverwaltung) vergleichbar ist. Hat der Bewerber später nicht entsprechend seiner Qualifikation gearbeitet, sammelt er auch keine Zeiten „hauptberuflicher Tätigkeit“. |

Kläger erhielt keine Einladung zum Vorstellungsgespräch

Der Kläger bewarb sich auf die o. g. Stelle und wurde nicht eingeladen. Vor dem Verwaltungsgericht (VG) klagte er auf eine Entschädigung nach dem AGG (hier: § 15 Abs. 2 S. 1 AGG) und unterlag. Seinen Antrag auf Zulassung der Berufung wies das OVG zurück. Zu Recht habe das VG ausnahmsweise eine Einladung eines schwerbehinderten Menschen durch einen öffentlichen Arbeitgeber als entbehrlich angesehen. Denn die fachliche Eignung fehlte offensichtlich.

Wesentliche Unterschiede in der Ausbildung

Der Kläger hatte eine Ausbildung zum Kaufmann in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft absolviert. Deren Inhalte unterschieden sich wesentlich von denen, die im Vorbereitungsdienst für den mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst in der Bundeswehrverwaltung vermittelt würden und allein zur Laufbahnbefähigung für den mittleren Dienst führen könnten. Das VG verglich insoweit die Ausbildung des Klägers mit den Anforderungen des fachspezifischen Vorbereitungsdienstes. Er konnte auch nicht nachweisen, dass seine späteren hauptberuflichen Tätigkeiten seiner Qualifikation entsprachen bzw. anzuerkennen seien. Hier wäre ein Zeitraum von mindestens einem Jahr und sechs Monaten notwendig gewesen. Er hatte auf verschiedenen Stellen überwiegend einfache Büro- und Verwaltungsarbeiten ausgeführt, die häufig nicht einmal eine kaufmännische Ausbildung voraussetzten. Quelle | OVG NRW, Urteil vom 8.5.2023

Benachteiligungsverbot: Dem potenziellen Arbeitgeber muss Schwerbehinderung des Bewerbers bekannt sein

Der objektive Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, kann die Vermutung der Benachteiligung eines erfolglosen schwerbehinderten Bewerbers wegen der Schwerbehinderung nach § 22 AGG regelmäßig nur begründen, wenn der Bewerber den Arbeitgeber rechtzeitig über seine Schwerbehinderung in Kenntnis gesetzt hat. Das hat jetzt das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden.

Die Parteien stritten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung zu zahlen.

Sachverhalt

Der Kläger ist Diplom-Verwaltungswirt (FH). Nach seinem Studium war er zunächst stellvertretender Sachgebietsleiter, später Sachgebietsleiter eines Ausländeramts. Dann war er als geschäftsleitender Beamter einer Gemeinde und als Geschäftsleiter einer anderen Gemeinde tätig. In der Zeit von April 1992 bis April 2008 war er erster Bürgermeister. Ausweislich des Bescheids des zuständigen Versorgungsamts von Dezember 2013 ist der Kläger mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 schwerbehindert.

Die Beklagte, die in Teilbereichen der Verwaltungstätigkeit einer großen Kreisstadt gleichgestellt ist, schrieb im September 2017 die Stelle eines/einer Leiter/in des Sachgebietes Bauen und Wohnen aus. Der Kläger bewarb sich auf diese Stelle. Weder im Bewerbungsschreiben noch im beigefügten Lebenslauf informierte er die Beklagte über seine Schwerbehinderung.

Die Beklagte traf in der Folgezeit eine Vorauswahl unter den Bewerbern und lud die von ihr als geeignet erachteten zu Vorstellungsgesprächen ein. Der Kläger war nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Später entschied sich das Auswahlgremium für einen anderen Bewerber.

Benachteiligung lag vor…

Zwar wurde der Kläger dadurch, dass der Beklagte ihn im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren nicht berücksichtigt hatte, unmittelbar benachteiligt, denn er hat eine weniger günstige Behandlung erfahren als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Darauf, ob es andere Bewerber gegeben hat, ob deren Bewerbungen Erfolg hatten und ob ein von der Beklagten ausgewählter Bewerber die Stelle angetreten hat, kommt es nicht an.

… aber nicht aufgrund der Schwerbehinderung

Der Kläger hat die unmittelbare Benachteiligung jedoch nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Eine gesetzliche Vermutung, dass der Kläger die Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung erfahren hat, ergibt sich weder aus der Nichteinladung des Klägers zu einem Vorstellungsgespräch noch aus sonstigen Umständen: Nach dem Sozialgesetzbuch IX melden die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit frühzeitig freiwerdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze. Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder von einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.

Arbeitgeber hatte keine Information über Schwerbehinderung

Hier hat der Arbeitgeber zwar gegen seine Pflicht verstoßen, den Kläger einzuladen. Dafür, dass dieser objektive Verstoß des Arbeitgebers aber wegen der (Schwer)Behinderung geschehen ist, fehlen jegliche Anhaltspunkte. Denn dann hätte dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung des Bewerbers bekannt sein müssen. Deshalb muss ein Bewerber, der seine Schwerbehinderung bei der Behandlung seiner Bewerbung berücksichtigt wissen will, den (potenziellen) Arbeitgeber hierüber in Kenntnis setzen, soweit dieser nicht ausnahmsweise, so ggf. bei internen Bewerbern, bereits über diese Information verfügt. Andernfalls fehlt es an der (Mit-)Ursächlichkeit der (Schwer)Behinderung für die benachteiligende Maßnahme.

Quelle | BAG, Urteil vom 17.12.2020, 8 AZR 171/20

Vorstellungsgespräch: Benachteiligung eines schwerbehinderten Bewerbers

Geht dem öffentlichen Arbeitgeber die Bewerbung einer fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten oder dieser gleichgestellten Person zu, muss er diese zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Das gilt auch bei einer (ausschließlich) internen Stellenausschreibung. So hat es jetzt das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden.

Die Beklagte, ein öffentlicher Arbeitgeber, hatte intern zwei Stellen ausgeschrieben, wobei eine Stelle in Cottbus und die andere Stelle in Berlin-Mitte zu besetzen war. Der langjährig bei der Beklagten beschäftigte Kläger bewarb sich auf beide Stellen. Beide Stellen hatten identische Anforderungsprofile. Es wurde ein Auswahlverfahren nach identischen Kriterien durchgeführt. Der Kläger wurde jedoch nur zu einem (Stelle in Berlin) eingeladen mit dem Hinweis, dass die Ergebnisse des Auswahlgesprächs für die Stelle in Berlin in das Stellenbesetzungsverfahren für die Stelle in Cottbus einfließen würden. Beide Bewerbungen blieben erfolglos.

Der Kläger hat die Beklagte gerichtlich u. a. darauf in Anspruch genommen, eine Entschädigung zu zahlen. Er meint, die Beklagte habe ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Dies folge daraus, dass sie ihn nicht zum Vorstellungsgespräch auch für die Stelle in Cottbus eingeladen habe. Das Arbeitsgericht hatte die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zu einer Entschädigung verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem BAG Erfolg.

Das BAG: Die Beklagte hat den Kläger nicht benachteiligt und schuldet ihm deshalb keine Entschädigung. Sie war u. a. ihren Pflichten dadurch ausreichend nachgekommen, dass sie den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch betreffend die Stelle in Berlin-Mitte mit identischem Anforderungsprofil eingeladen hatte und das Auswahlverfahren nach identischen Kriterien durchgeführt wurde.

Quelle | BAG, Urteil vom 25.6.2020, 8 AZR 75/19

Stellenausschreibung: Alterseinschränkung für persönliche Assistentin einer schwerbehinderten Frau

Eine Stellenausschreibung benachteiligt eine Bewerberin um eine Anstellung als „Persönliche Assistentin“ einer schwerbehinderten Frau zwar wegen ihres Alters, wenn ein bestimmtes Alter gewünscht und genannt wird. Die hohen beruflichen Anforderungen der Tätigkeit rechtfertigen dies aber. So hat es das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln entschieden. 

Sachverhalt

Die Beklagte ist ein Assistenzdienst, der behinderte Menschen in allen Belangen rund um das Thema „Persönliche Assistenz“ unterstützt. Durch „Persönliche Assistenten“ sollen Menschen mit Behinderungen ihr Leben selbstbestimmt leben, unabhängig von ihren körperlichen, geistigen und/oder seelischen Einschränkungen. Die Beklagte berät diese von der Beantragung des Budgets bis hin zur Bewilligung durch den Kostenträger. Ferner steht sie ihnen bei der Mitarbeitersuche zur Seite. Dies betrifft unterschiedliche Dienste, wie etwa Arbeitsassistenz, Alltagsassistenz, Freizeitassistenz, Elternassistenz, Studienassistenz oder auch 24-Stunden-Assistenz. Im Rahmen der Unterstützung bei der Mitarbeitersuche betreibt die Beklagte als Stellenmarkt auch ein Internetportal. Die behinderten Menschen können dort ein Stellenangebot inserieren. Die Beklagte stellt ihnen vorab einen Fragebogen zur Verfügung, in dem sie Wünsche im Hinblick auf die Person des Assistenten angeben können, wie etwa Geschlecht oder Alter. Bei erfolgreicher Vermittlung schließen die behinderten Menschen einen Dienstleistungsvertrag und die Assistenzperson einen Arbeitsvertrag mit der Beklagten. Im August 2018 bewarb sich die Klägerin auf eine Stellenausschreibung im o. g. Internetportal der Beklagten. Hierin suchte eine 28jährige schwerbehinderte Studentin eine „Persönliche Assistentin“ in allen Lebensbereichen des Alltags, die am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein sollte. Die Beklagte wies die Bewerbung der 50 Jahre alten Klägerin mit der Begründung zurück, sie habe sich aufgrund der hohen Anzahl von Bewerbern für einen anderen Bewerber entschieden.

So entschied das Arbeitsgericht

Das Arbeitsgericht (ArbG) hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe eines potenziellen Bruttomonatsengelts von 1.770 Euro zu zahlen. Denn durch die Stellenausschreibung werde die Klägerin wegen ihres Alters ungerechtfertigt benachteiligt. Das Alter stelle keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Assistenz eines behinderten Menschen dar. Die Beklagte könne sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht des behinderten Menschen berufen, denn dessen Selbstbestimmungsrecht werde nicht berührt. Bei persönlichen Assistenzleistungen komme es in erster Linie auf die vom Alter unabhängige zwischenmenschliche Beziehung und Empathie an.

Andere Sichtweise der höheren Instanz

Das sah das LAG anders. Zwar benachteilige die Stellenausschreibung die Klägerin wegen ihres Alters. Dies sei hier aber aufgrund der beruflichen Anforderungen der Tätigkeit der persönlichen Assistenz gerechtfertigt. Die Beklagte verfolge mit der Anstellung „Persönlicher Assistenten“, deren Anforderungsprofil individuell von dem behinderten Menschen vorgegeben wird und deren Beschäftigung zur Erfüllung dieser Vorgaben erfolgt, auch sozialpolitische Ziele, die im Allgemeininteresse liegen. Die Realisierung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung liegt im Allgemeininteresse. Assistenzleistungen sind ein vom Gesetzgeber anerkanntes Mittel zur Verwirklichung des sozialpolitischen Ziels. Das Instrument der „Persönlichen Assistenz“ ist ein angemessenes und erforderliches Mittel zur Realisierung des Ziels, das die Klägerin nicht übermäßig benachteiligt, da ihr die Beschäftigung in anderen Formen der Assistenz verbleibt.

Quelle | LAG Köln, Urteil vom 27.5.2020, 11 Sa 284/19

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